Die Ableitung des Zwischenraums
[Stephka Klauras vegetative Bildwirkerei - ein Annäherungsversuch]
Als man Jean Cocteau fragte, was er denn retten würde, sollte das Museo del Prado in Madrid einmal brennen, antwortete dieser: Das Feuer. Salvador Dali meinte, in der dritten Person über sich sprechend, dass Dali nur die Luft mitnehmen würde. Das Feuer sei kein Element der Malerei, beharrte dieser, doch die Luft spiele in der Malerei die Hauptrolle. Infolgedessen legte Cocteau drei Halme in Form eines Schnurbarts hin und verneigte sich davor. [1]
Am stillen und toten Punkt der Präsentation [2], am entschleunigten Ende der Darstellung [3], im leeren Auge eines Orkans aus Formen und (Tarn)Farben, abseits der Schemen und Muster, in der Erschöpfung des Ästhetischen, wird das Sein plötzlich nackt und das Leben ereignet sich in seiner a-symbolischen Essenz. Im Ausklang der Deutung, nachdem das Ornament (als Verbrechen) [4] vom betrachtenden Auge beseitigt wurde, fixiert sich das Elementare schlagartig im Jenseits des Materials.
Was bleibt, nachdem „alles“ entfernt worden ist?
Luft. Das Freie. Die Leere. Der nichtbesetzte Raum. Die Leerstelle. Kurzgesagt: Das (all)wesentlichste (Grund)Element. Das Nichts.
Das Weltliche bietet, neben der konkreten Materie, somit auch Leere. Doch da der Raum sich nicht von selbst entheben lässt, benötigt er eine „Technik“, eine Stütze, einen Rahmen, welcher, in diesem Falle, das sichtbar gemachte Handwerk ist. Das angeordnete Material schafft in diesem Sinne eine Form, ein „Gestell“, durch welches hindurch die vielleicht eigentliche Kunst der Leere erst ins Raumlicht „entborgen“ werden kann, um mit dem Philosophen Heidegger zu sprechen. [5]
Auf den ersten Blick entbirgt dieses Gestell den Raum sehr radikal und kompromisslos. Es scheint den Äther dermaßen zu sättigen, dass man sich der Leere dazwischen nicht sofort gewahr werden kann. Das Geschaffene bildet in dieser Form den (hyperrealen) Exzess, sozusagen. [6] Doch wie wir dank der Psychoanalyse Lacans wissen [7], ist diese Ausschweifung nur Zierrat, der um die Unfassbarkeit einer realen Leere kreist.
Dennoch holt sich das Geschaffene, an seinem hyperrealen Höhepunkt [8], den Raum in Form eines Dschungels zurück. Das Design nimmt uns mit: auf eine (Digital)Safari, zieht uns hin, in eine polychrome Bildwirkerei. Das Ästhetische verschmilzt mit dem Praktischen und lässt die Gebrauchsgegenstände lustvoll transzendiert zurück. Textilbahnen hängen lianenhaft. Ihrem Hintergrund enthoben, schweben Bilder – Amazonasblättern gleich – anmutend im Raum und flackern in einem Wind, den es nicht gibt. Oberflächenstrukturen, dekorative Muster und farbgewaltige Pattern ziehen sich über die banale und praktikable Wirklichkeit der Dinge und verzieren unser allgemeines Anwendungsbewusstsein. Das Nützliche wird plötzlich ästhetisch sinnvoll und dem feinsinnig, formvollendet und kunstvoll Schönen öffnet sich die Möglichkeit des Zweckdienlichen.
Die Atmosphäre ist hyper-ästhetisch angereichert und hoch konzentriert. Aber immer noch befinden wir uns inmitten eines Textildschungels, der in seiner kolorierten Vegetation, die Leere unerbittlich zu sich holt, zu sich und zu uns. Das menschlich Geschöpfte über-imitiert die Prozesse einer Natur, die für uns schon lange nicht mehr fassbar ist und deshalb nur noch als imaginäre Leerstelle fungieren kann, um die herum ein Imperium aus Mustern, Strukturen und Ornamenten entwickelt worden ist.
Beide, Natur und Technik (als Kunst), sind sie vereinnahmend und kompromisslos, wenn man sie erst einmal entstehen lässt. Und in hyperrealen Zeiten, lange nachdem die Natur sich ablösen hat lassen vom Designhandwerk, kommt sie jetzt in ihrer pervertierten Form wieder und holt sich den urban-industriellen Raum zurück. Die (industrielle) Technik, umschlungen von (Handwerks) Kunst, als Versinnbildlichung der Natur, die früher oder später die menschliche Welt zurückerobern wird, doch heute nur als postmoderne Parodie, in ihrer sich selbst persiflierenden, über-natürlichen Form des Textils existieren kann.
Die vergessene Natur kehrt somit als Kunst(Trauma) wieder und platziert sich imaginär, illusionär, pflanzt sich zurück in den Raum – in Form von Kunst.
Es scheint fast so, als schafften die natürlichen Prozesse es nur noch mithilfe der Technik- Kunst manifest zu werden. Die „wahre“ Natur: Wir kennen sie nicht mehr. Wir kennen nur ihren ironischen Nachhall, ihre Parodie, allein diese ist uns noch vertraut. Aber da sie uns vertraut ist macht sie uns keine Angst, was auch Sartre schon feststellen konnte: „Sie [die Menschen] haben keine Angst, sie fühlen sich zu Hause. Sie haben nie etwas anderes gesehen als das gezähmte Wasser, das aus den Hähnen läuft, als das Licht, das aus den Glühbirnen strahlt, wenn man auf den Schalter drückt, als entartete, gekreuzte Bäume, die man mit Astgabeln stützt. Sie erhalten hundertmal am Tag den Beweis, daß alles mechanisch abläuft, daß die Welt starren und unwandelbaren Gesetzen gehorcht.“ [9]
Wir leben inmitten des Technischen und haben keine Angst davor. Dennoch lauert in unserem Grunde ein Gefühl des Unbehagens, denn wir fühlen insgeheim, dass diese „schöne“ technische Welt, nicht alles ist (in uns und um uns herum), sondern uns in gewisser Form entfremdet von dem, was wir wirklich sind: Natur. Doch für die nackte Natur sind wir zu feige und beschämt. Deshalb holen wir sie uns zurück – und erschaffen sie uns neu (—> die Kunst)
Die Funktionen stimmen, das Prozesshafte ist sehr überzeugend, doch die Natur, wie wir sie einst kannten, gibt es nicht mehr. Es gebietet vielmehr die Künstlichkeit über alles, und in diesem Raum gibt es nichts, was sie nicht vereinnahmt hat oder vereinnahmen hätte können.
Doch wenn diese Kunst die Möglichkeit besitzt, überall zu sein: auf Stühlen, von der Decke hängend, an den Wänden und auf den Sofas, dann muss man sich fragen, warum sie eben nicht überall ist. Da sie bewusst ihre eigene Extension ins Unendliche verhindert, müssen diese Leerstellen, die sie uns (zurück)lässt, doch etwas bedeuten. Oder?
Es kann gar nicht anders sein. Wenn man alles verschlingen und verdauen könnte, werden jene Flächen, die nicht besetzt und vereinnahmt werden, schlagartig relevant. Leere wird plötzlich genauso relevant wie Fülle. Das Besetzte löst niemals die Bedeutung des Un- besetzten ab, auch wenn es im Stillen danach trachtet, dieses für immer zu tilgen.
Und so kommen wir schlussendlich wieder zurück. Zum Anfang. Zum Spannungsfeld, an dem Nichts und Etwas kollidieren. Zur Ambivalenz, in der man sich Klarheit darüber verschaffen kann, wer oder was man ist. Wir kommen zurück zu uns selbst, zur Essenz, die jenseits des ikonischen Firlefanz und des nackten Raums, in diesem In-Between, diesem Dazwischen, dieser pur-humanen Schnittstelle, so vehement überbleibt, und die Möglichkeit unseres Überlebens gewährleistet. Zwischen Kunst und Raum blicken wir somit tief hinein in unsere eigenen Leerstellen. Wenn wir der äußeren Welt, in diesem Hin und Her aus Nichts und Etwas, ihren Sinn abziehen, landen wir schließlich beim Wesentlichen, bei uns, denn, wie Baudrillard schon feststellt: „den Sinn abzuziehen bedeutet, das Wesentliche in Erscheinung treten zu lassen“ [10] Das Wesentliche unseres Daseins.
Text: Stefan Feinig
[1] Martinez, Ana (2004): Dalí - Die Beständigkeit der Erinnerung. Dokumentarfilm. TVE S. A. & ARTE G.E.I.E.
[2] Vgl. Baudrillard, Jean (1978): Kool Killer oder Der Aufstand der Zeichen. Berlin: Merve Verlag.
[3] Vgl. Rosa, Hartmut (2013): Beschleunigung und Entfremdung: Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Berlin: Suhrkamp Verlag.
[4] Vgl. Adolf Loos (2012): Ornament und Verbrechen. Wien: Metroverlag.
[5] Für Heidegger ist „Technik“ eine Weise des Entbergens. Mit „entbergen“ ist gemeint: etwas hervorbringen oder etwas zum Vorschein bringen. Das Wesen der modernen Technologie (in unserem Fall die Kunst) ist, dass sie etwas „entbirgt“, das sich nicht selbst hervorbringen kann. Technik (Kunst) wird also benutzt, um die Natur (den Raum) zu beherrschen, sie (ihn) zu bearbeiten und sie (ihn) dem Menschen nutzbar zu machen. Und sobald der Mensch etwas zu Entbergendes herausfordert, damit es Bestand hat, dann spricht Heidegger vom „Gestell“. Vgl. Heidegger Martin (2006): Sein und Zeit. Tübingen: Max Niemeyer Verlag.
[6] Vgl. Baudrillard, Jean (1985):Die fatalen Strategien. München: Matthes & Seitz.
[7] Vgl. Žižek, Slavoj (2008): Lacan. Eine Einführung. Frankfurt: Fischer Verlag.
[8] Vgl. Baudrillard, Jean (1978): Agonie des Realen. Berling: Merve Verlag.
[9] Sartre, Jean Paul (2006): Der Ekel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, Seite 248.
[10] Vgl. Baudrillard, Jean (2008): Warum ist nicht alles schon verschwunden? Berlin: Matthes & Seitz, Seite 35.